Am vergangenen Samstag, dem 13.04.2024, haben zehn Schüler*innen des Abiturjahrgangs 1974 ihre ehemalige Schule besucht und sich gemeinsam an ihre Schulzeit erinnert, die vor 50 Jahren zu Ende gegangen war. Der folgende Bericht eines „Goldenen Abiturienten“ gibt einen amüsanten Einblick in das damalige Schulleben am Ratsgymnasium:

Seit 1911 – wie man nachlesen kann – ist das Ratsgymnasium Peine nun schon eine Anstalt. Das hat uns damals in den 60ern und 70ern niemand offiziell gesagt; aber wir haben den Staub der Vergangenheit durchaus bemerkt. Wie war das nun damals zu „unserer Zeit“ in dieser Anstalt? War sie geschlossen oder offen; waren wir betreut oder versorgt, be- oder verwahrt oder gar verwahrlost?

Ich glaube, von allem ein wenig; denn damals passte nichts mehr so richtig zusammen und am Ende stimmte doch vieles. Der Numerus clausus wurde trotz massiver Schülerproteste in unserer Zeit erfunden. Und wer kennt heute noch Kurzschuljahre sowie – die scheinen ja wieder aktuell zu werden – reaktivierte Lehrkörper (so hieß das damals schon geschlechtsneutral) mit über 70 Lenzen? Wie sollte man als Nach-68er damit umgehen, dass im Bio-Unterricht die menschliche Fortpflanzung am Beispiel der Bienen und Blüten erklärt wurde und man von den älteren Schülern Sponti-Sprüche hörte wie: „Wer zweimal mit der Gleichen pennt, gehört schon zum Establishment.“? Zum Glück hießen viele Mädchen damals Bine, Moni und Rosi oder so ähnlich. Für Witze im Zusammenhang mit dem kleinsten Dom der Welt gab es noch Rügen und Tadel; später wurde damit am Ratsgymnasium geforscht. Aber immerhin ist für ein Leben haften geblieben, dass Freude besser ist als Spaß (O-Ton eines hier ungenannten Lateinlehrers: „Jungs, es heißt schließlich das Spaßbad und das Freudenhaus!“).

Wir waren die erste so richtig von der Fernsehwerbung geprägte Generation und so waren die (damals noch üblichen) Spitznamen für Lehrer und Schüler z. B. Unox oder Eumel. Und Demokratie an der Schule war in der vorbrandtschen Ära für Schüler noch ein Wagnis (O-Ton eines damals stadtbekannten Lehrers: „Wenn ich hier die Tür aufmache, dann ist das ein Amtsraum; denn hier bin ich das Establishment. Hefte raus! Ihr schreibt, bis euch die Finger bluten!“). Aber nach und nach wurden auch an unserer Anstalt die ersten unzensierten Schülerzeitungen veröffentlicht. Gelegentlich gab es allerdings noch schlüsselbund- oder linealunterstützte Erziehungshinweise älterer Russlandheimkehrer und immerhin manchmal die Wahl: „Ohrfeige oder Klassenbucheintrag?“ 

Überhaupt hatten wir den Eindruck, dass das Klassenbuch die letzte Bastion aus wilhelminischen Zeiten war; denn mit zunehmender Länge der Schülerhaare inflationierte die Zahl der Klassenbucheinträge, so dass es einige Schüler auf eine (allerdings de facto folgenlose) stattliche Anzahl von schweren und mittleren Tadeln sowie Rügen brachten. Da aufgrund eines bis heute ungeklärten Vorgangs unser Klassenbuch der 10. Klasse kurz vor Zeugniserteilung für immer verschwand, mussten sich die Lehrer mit der den Eltern erklärbaren Aussage „wurde häufiger getadelt“ begnügen.

Und dann Anfang der 70er der bahnbrechende Wandel durch die sog. Koedukation; in den 5., 7. und 10. Klassen erstmals Schüler weiblichen Geschlechts am altehrwürdigen Ratse. Lehrer, die früher einen eher derben Umgangston mit den Schülern (männlich) pflegten, wurden zu wahrhaft schüchternen und verständnisvollen Hinweisgebern, und auch die Flegel aus der letzten Reihe bemühten sich, die neuen An- und Ausblicke mit der nötigen Zurückhaltung in Wortwahl und Verhalten zu begleiten. Der Versuch der Schule, die älteren Mädchen dadurch vor dem negativen Einfluss der allzu größten „Rüpel“ zu schützen, dass sie der Klasse mit den braven Schülern zugeordnet wurden, schlug allerdings vollkommen fehl (die Langhaarigen trafen sich mit den bauchfreien und miniberockten Mitschülerinnen im damals noch existierenden Raucherraum). Wir waren übrigens eine reine Jungenklasse.

Rock war seit den 60ern auch die vorherrschende Musik und Fips Lubenau musste nach zähem Kampf schließlich zugeben, dass Deep Purple in Concert große Musik ist. Ausgiebig feiern usw. konnte man nur am Samstagabend, weil der Samstag bis 12 Uhr noch offizieller Schultag war. Dafür begann die Fete allerdings schon um 19 bis 20 Uhr. Wenn wir uns trafen, dann häufig in einer Garage gegenüber der Wohnung unseres Mathelehrers, der gelegentlich auch mit unseren nächtlichen Gesangseinlagen erfreut wurde. Von einer gemeinsamen Nacht am PC und animierten Computerspielen konnten wir noch nicht einmal träumen, weil ein Taschenrechner mit Memory-Speicher die damals neueste Errungenschaft der Technik war. Und KI war allenfalls in SciFi-Filmen ein Thema. Also alles in allem eine wirklich schöne Zeit.

Sicher wären noch einige andere Besonderheiten und Anekdoten aus den frühen 70ern erwähnenswert, wie z.B. die informations- und alkoholgetränkten Klassenfahrten und der für viele erste Besuch im Osten des damals noch geteilten Berlins. So viel zur Vergangenheit aus subjektivem Blickwinkel. Wir – die ehemalige 13b – haben heute jedenfalls Grund, uns bei der derzeitigen Schulleitung unserer Penne für die sehr interessanten Einblicke in das aktuelle Schulgeschehen ganz herzlich zu bedanken. 

100 Jahre wurde die alte Dame im Jahre 2011 und – das ist wirklich nicht selbstverständlich – sie sieht auch heute noch ungeschminkt jung und aktiv aus. Aufgrund ständig steigender Schülerzahlen hat sie sich quotal von einer Eliteschule zu einer eigentlichen Hauptschule entwickelt. Zu unserer Zeit gingen z. B. nicht einmal 10% der Schüler und Schülerinnen aufs Gymnasium. Und wenn das so weitergeht, dann braucht das Ratse auch in der Zukunft nicht wie einst Johannes Heesters mit dem Rollstuhl auf die Bühne gefahren zu werden, um alte Arien zu schmettern, sondern spielt im Konzert der Schulen die ihm gebührende aktive und sich ständig erneuernde Rolle. Die Probleme einer Schule sind – was nicht überrascht – trotz anderer Rahmenbedingungen und anderen handelnden Personen im Wesentlichen gleich geblieben und sie bleibt in Deutschland Spielball der Landespolitik.

Text: Hans-Wilhelm Giere, Abitur 1974 am Ratsgymnasium

Foto: Wolfram Bartsch